Aus gegebenem Anlass habe ich mich heute nach längerer Zeit mal wieder an einen Begriff des Zeitungswissenschaftlers Otto Groth erinnert. Er hat eine Definition der Zeitung als immateriellem Träger des "Zeitgesprächs der Gesellschaft" geliefert - und einen besseren Ausdruck wird man in der deutschen Sprache für das, was gerade im Social Web passiert, kaum finden. Seine wichtigste Idee war aber die Loslösung des Zeitungsbegriffs von dessem materiellen Substrat.

Er führte den Begriff der "Zeitung" auf seine ursprüngliche Bedeutung, nämlich "Nachricht", zurück. Solange ein Medienprodukt aktuell, universell in seiner Bedeutung, öffentlich zugänglich und periodisch erneuert wurde, war es für ihn eine Zeitung und damit Gegenstand der Zeitungswissenschaft Münchner Prägung, die sich gegen ihre Konkurrenten aus Berlin und anderswo nie so richtig durchsetzen konnte.

Wenn in Deutschland Verlegerlobbyisten mit dem Begriff "zeitungsähnlich" gegen öffentlich-rechtliche Angebote im Internet vorgehen wollen, dann legen sie damit eigentlich nur jene Eigenschaften an den Tag, die ihre Branche schnurstracks in die Krise geführt haben: Mangelndes Wissen über Medientheorie und damit über ihr Kerngeschäft, sowie Geschichtsvergessenheit und Schwächen im strategischen Denken.

Bezeichnend auch, dass bei der Eingabe des Suchstrings "Otto Groth Facebook" als erster relevanter Link ein Eintrag in einem brasilianischen Weblog auftaucht, der auf eine aktuelle Übersetzung von Groths Schriften ins Portugiesische hinweist. In Deutschland hatte Groth als Jude einen schweren Stand. Im Nachhinein könnte er sich mit seinem Verständnis der Zeitgebundenheit von Kommunikation mit dem Strang Bergson/Deleuze verknüpfen lassen. Die Konfiguration Groth vs. Dovifat kommt mir ähnlich vor wie die bekannte Opposition Tarde vs. Durkheim. Muss mal wieder bei ihm reinlesen, den Begriffsapparat rebooten.

Für den aktuellen Diskurs über Medien ist Groth jedenfalls von wesentlich höherer Relevanz als der immer wieder gern zitierte Riepl mit seinem "Gesetz".